24.08.2023
Die Berufungskammer spricht eine Beschuldigte, die erstinstanzlich bereits rechtskräftig wegen mehrfachen versuchten Mordes und Prostitution verurteilt wurde, der Widerhandlung gegen das Al-Qaïda/IS-Gesetz schuldig und verurteilt sie zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren und 6 Monaten (CA.2022.27)



Die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts stellt fest, dass die beiden Schuldsprüche gegen die Beschuldigte wegen mehrfachen versuchten Mordes (Art. 112 in Verbindung mit Art. 22 StGB) und mehrfacher unzulässiger Ausübung der Prostitution (Art. 199 StGB) je rechtskräftig geworden sind, da sie von den Parteien nicht angefochten wurden. Gemäss Antrag der Bundesanwaltschaft wird die Beschuldigte der Widerhandlung gegen Art. 2 des (inzwischen aufgehobenen) Bundesgesetzes über das Verbot der Gruppierungen «Al-Qaïda» und «Islamischer Staat» sowie verwandter Organisationen schuldig gesprochen. Aufgrund der Idealkonkurrenz zwischen den Straftaten des mehrfachen versuchten Mordes und der Widerhandlung gegen Art. 2 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes, sowie der Schwere des zweiten Mordversuchs, wird die gegen die Beschuldigte verhängte Freiheitsstrafe auf 10 Jahre und 6 Monate erhöht.

Das Urteil CA.2022.27 betrifft die Berufung der Bundesanwaltschaft und die Anschlussberufung der Beschuldigten gegen das Urteil der Strafkammer des Bundesstrafgerichts SK.2022.20 vom 19. September 2022. Aufgrund der in Rechtskraft erwachsenen Urteilspunkte, die von den Parteien nicht angefochten wurden, bilden nur die Widerhandlung gegen Art. 2 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes und die Strafzumessung Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens.

Anklageschrift
Die Bundesanwaltschaft wirft der Beschuldigten mehrfachen versuchten Mord (Art. 112 in Verbindung mit Art. 22 StGB), Widerhandlung gegen Art. 2 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes sowie mehrfache unzulässige Ausübung der Prostitution (Art. 199 StGB) vor. 

Der Beschuldigten wird vorgeworfen, am 24. November 2020 im Warenhaus Manor Süd in Lugano vorsätzlich versucht zu haben, zwei Frauen mit einem Messer zu töten, dabei besonders skrupellos gehandelt und den IS gelobt zu haben, sowie den IS dabei vorsätzlich personell unterstützt und dessen Aktivitäten auf andere Weise gefördert zu haben. Der Beschuldigten wird zudem vorgeworfen, zwischen 2017 und 2020 in Lugano wiederholt gegen die kantonalen Vorschriften über die Bedingungen der Prostitutionsausübung verstossen zu haben, indem sie unrechtmässig als Prostituierte tätig gewesen sei.

Die Bundesanwaltschaft beantragte sowohl vor erster als auch vor zweiter Instanz eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren sowie eine Busse von 2'000 Franken wegen mehrfacher unzulässiger Ausübung der Prostitution.

Erstinstanzliches Urteil (SK.2022.20)
Mit Urteil SK.2022.20 vom 19. September 2022 sprach die Strafkammer des Bundesstrafgerichts die Beschuldigte des mehrfachen versuchten Mordes (Art. 112 in Verbindung mit Art. 22 StGB), der Widerhandlung gegen Art. 2 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes und der mehrfachen unzulässigen Ausübung der Prostitution (Art. 199 StGB) schuldig.

Die Strafkammer vertrat insbesondere die Auffassung, dass der Straftatbestand des mehrfachen versuchten Mordes als schwerwiegender einzustufen sei als die Widerhandlung gegen Art. 2 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes, sodass die letztgenannte Straftat gegenüber dem mehrfachen versuchten Mord in den Hintergrund  zu treten habe. Das erstinstanzliche Gericht schloss daher eine Ideal­konkurrenz zwischen diesen beiden Straftaten aus. Folglich wurde die Beschuldigte der Wider­handlung gegen das Al-Qaïda/IS-Gesetz nur wegen Versendens von schriftlichen Nachrichten und Fotos mit pro-IS-Inhalten über Facebook für schuldig befunden, nicht aber in Bezug auf die Handlungen, die im Kaufhaus Manor Süd in Lugano begangen wurden.

Die erste Instanz verurteilte die Beschuldigte zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und einer Busse von 2'000 Franken und ordnete zudem eine stationäre Behandlung in einer geschlossenen Einrichtung an, da eine hohe Rückfallgefahr bestehe. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde aufgeschoben, um diese Massnahme zu vollziehen.

Die am 24. November 2020 verhaftete Beschuldigte befindet sich derzeit, im Rahmen des Vollzugs der stationären Behandlung, im Strafvollzug des Kantons Tessin. Da diese Massnahme nicht angefochten wurde und somit rechtskräftig geworden ist, hat die Berufungskammer am 6. Februar 2023 ihren Vollzug angeordnet.

Berufungsurteil
Die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts stellt fest, dass die beiden Schuldsprüche gegen die Beschuldigte wegen mehrfachen versuchten Mordes (Art. 112 in Verbindung mit Art. 22 StGB) und mehrfacher unzulässiger Ausübung der Prostitution (Art. 199 StGB) je rechtskräftig geworden sind, da sie von den Parteien nicht angefochten wurden. Die Beschuldigte wird zudem wegen Widerhandlung gegen Art. 2 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes verurteilt, wie von der Bundesanwaltschaft beantragt, d.h. im Zusammenhang mit den Handlungen, die im Warenhaus Manor Süd in Lugano begangen wurden.

Im Gegensatz zur Vorinstanz ist die Berufungskammer der Ansicht, dass zwischen dem Straftatbestand des mehrfachen versuchten Mordes (Art. 112 in Verbindung mit Art. 22 StGB) und jenem der Widerhandlung gegen Art. 2 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes Idealkonkurrenz besteht, d.h. dass die beiden Straftatbestände parallel anwendbar sind und die Beschuldigte folglich wegen beiden Straftaten verurteilt werden muss. Die Berufungskammer ist insbesondere der Auffassung, dass die Art und Weise, in der die Beschuldigte die Taten im Warenhaus Manor Süd in Lugano begangen hat, über das hinausgeht, was für die Erfüllung des Straftatbestands des mehrfachen versuchten Mordes erforderlich ist. Die beiden Straftatbestände zielen zudem auf den Schutz zweier unterschiedlicher Rechtsgüter ab, zum einen auf den Schutz des Lebens, zum anderen auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit, was die Annahme von Idealkonkurrenz zwischen den beiden Straftatbeständen ebenfalls rechtfertigt.

Aufgrund der Idealkonkurrenz zwischen den Straftaten des mehrfachen versuchten Mordes und der Widerhandlung gegen Art. 2 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes, sowie der Schwere des zweiten Mordversuchs, wird die gegen die Beschuldigte verhängte Freiheitsstrafe auf 10 Jahre und 6 Monate erhöht. Bei der Strafzumessung hat die Berufungskammer auch die durch die Sachverständigen­gutachten festgestellte verminderte Zurechnungsfähigkeit berücksichtigt. Als strafmildernde Umstände wurden die Haftbedingungen im Strafvollzug des Kantons Tessin und die von der Beschuldigten in der zweitinstanzlichen Verhandlung geäusserte Reue berücksichtigt.

Gegen dieses Urteil kann innerhalb von 30 Tagen nach Zustellung der vollständigen schriftlichen Begründung Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht eingereicht werden. Für die Beschuldigte gilt nach wie vor die Unschuldsvermutung.


Beilage: Dispositiv CA.2022.27 vom 21. August 2023

Kontakt:
Estelle de Luze, Kommunikationsbeauftragte, presse@bstger.ch, Tel. 058 480 68 68





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